Einführung von Stephanie Gilles M.A. anlässlich der Kunstnacht 2025
Judith Egger- Susanne Thiemann
Zeichnung- Skulptur
hängen · stehen · liegen
Madonna, meine Damen und Herren, die „Queen of Pop“, hielt anlässlich der Verleihung des Billboard Awards „Woman of the Year“ im Jahr 2016 eine Rede. Die meisten Männer fanden sie unglaublich und schüttelten den Kopf ☹. Die meisten Frauen fanden sie unglaublich und nickten ihr zu 😊.
Madonna beschreibt darin die unfairen Regeln, denen Frauen auch heute noch unterliegen, erzählt von ihren eigenen Erfahrungen mit Widerständen und Vorurteilen und macht klar, wie wichtig das mutige, sichtbare Einstehen für die eigene Stimme ist. Sie ermutigt, ja beschwört geradezu die Frauen, gegen gesellschaftliche Erwartungen zu opponieren, für weibliche Selbstbestimmung einzutreten und so eine Brücke in die Zukunft zu schlagen – als Wegbereiterin und Vorbild für die nächste Generation von Mädchen und Frauen.
Als ich diese Ausstellung im Gotischen Stadel Anfang der Woche zum ersten Mal sah, erinnerte ich mich unmittelbar an diese Rede. Denn hier hängen, stehen und liegen Arbeiten, die zeichnerisch wie skulptural ähnliche Erfahrungen berühren und weitertragen – nur nicht in der Radikalität, mit der Madonna ihre Botschaften formulierte, sondern subtil, tastend, forschend, und gerade bei Judith Egger immer auch gewürzt mit einer kräftigen Prise Humor.
„Sichtbarkeit ist für mich ein politischer Akt: feministisch, vielschichtig, frei. Meine Arbeiten verweben Geschichte mit Zukunft – tastend, suchend, nie abgeschlossen.“ Diese Aussage von Susanne Thiemann lässt sich ebenso auf Judith Egger beziehen. Sie fasst zusammen, was diese Ausstellung im Kern trägt: eine feinsinnige Korrespondenz zwischen Eggers Zeichnungen und Thiemanns Flechtarbeiten. Kein im Vorfeld ausgeklügeltes Programm, sondern ein Einverständnis, das sich während des Entstehens im Gotischen Stadel unvermittelt offenbarte – aufleuchtend wie ein Aha-Moment.
Gerade in dieser leisen Übereinstimmung entfalten sich feine Analogien zwischen skulpturaler und zeichnerischer Gestaltungskraft – mal subtil verborgen, mal offensichtlich. Das Ergebnis ist eine gemeinsame Sprache, die überraschend, vielschichtig und von großer Kraft ist.
Seit 2001 flicht Susanne Thiemann Skulpturen aus Kunststoffschläuchen, die sie als Restbestände aus den 1970er-Jahren in einer Lagerhalle entdeckte. Sie knüpft damit an die Tradition der Soft Sculptures an, die Künstlerinnen wie Yayoi Kusama in den 1960er-Jahren populär machten und für die heutzutage geradezu ikonisch die Textilkünstlerin Sheila Hicks stehen kann.
Die diesen Soft Sculptures zugrunde liegende Arbeitsweise setzt auf flexible Materialien und löst sich damit von den klassischen Vorstellungen des Modellierens oder Schnitzens. Sie eröffnet völlig neue Ausdrucksmöglichkeiten . Das entspricht Susanne Thiemann besonders, speist sich doch ihre Inspiration in hohem Maße aus der ursprünglichen Ausbildung zur Korbflechterin.
Was in der Flower- Power- Zeit als Material für bespannte Gartenstühle diente, verwandelt die Wahlmünchnerin heute in Kunstwerke. Durch ihr Upcycling haucht sie dem Kunststoff neues Leben ein und überführt Vergangenes in eine neue Daseinsform.
Im Arbeitsprozess leitet Thiemann ihre Figuren, ohne sie in eine starre Form zu zwingen. Die Materialität der Schläuche folgt eigenen Gesetzen: Die Skulpturen drehen und wenden sich, sacken ein oder richten sich unvermittelt wieder ein wenig auf. Sie entwickeln ein Eigenleben – frei, manchmal provokant, nicht selten an weibliche Körper erinnernd und stets von einer leisen Verletzlichkeit durchzogen.
Es entstehen amorphe Gebilde in Rot, Weiß oder Schwarz, elegant und geerdet, neben bunt gestreiften Objekten wie der frei schwebenden Arbeit „Hang-on“, die in Farbe und Bewegtheit pralle afrikanische Lebensfreude assoziiert. Ebenso finden sich abstrahierte Wandarbeiten: kissenartige, fransige Objekte, deren geheimnisvolle Fremdheit eine Ahnung von Wissen in sich trägt – vergleichbar dem „Hut“ im Kleinen Prinzen, der sich dem phantasievollen Blick als etwas gänzlich anderes offenbaren wird.
All diese textilen Schöpfungen sind horizontal und vertikal verflochten. Sie bilden Haarschöpfe und Zipfelröcke, greifen schlingpflanzenartig aus. Manche hängen von der Decke, andere wachsen aus dem Boden: Hüllen, Kokons, Seelenverstecke, aus denen man sich herauswinden kann, in denen man gefangen bleibt – oder aus denen man sich befreit, indem man den Schlauch zum Tanzkleid erklärt.
Es ist ein Spielen und Wogen, das diese Figuren – zumal im Zusammentreffen auf engem Raum – eingehen. Die einen geerdet, die anderen befreiter, streben sie alle selbstbewusst in die Höhe wie eigenständige Wesen mit klarer Haltung.
Und zwischen diesen aus endlosen Kunststoffschläuchen geflochtenen Skulpturen spitzen vorwitzig kleine und große Papierarbeiten von Judith Egger hervor. Auch sie feiern die Weiblichkeit, die Kraft und Energie, die Frauen aufbringen, um das Leben zu verstehen und selbstbestimmt zu gestalten.
„Druck-Stellen“ nennt Judith Egger diese, ihre jüngsten Arbeiten. Während sie bis vor kurzem Objekt und Installation, Video und Performance den Vorrang gegeben hat, ist diese seit rund sechs Monaten währende Schaffensphase geprägt von subtil hintergründigen, unmittelbar und mitunter wütend anmutenden Zeichnungen, die jedoch nie ins Destruktive abgleiten.
Vielmehr findet die Künstlerin auch in ihren neusten Zeichnungen Wege, die Essenz des Menschlichen herauszuschälen, das Wunderbare neben das Bekannte, das Phantastische neben das nüchtern Nachvollziehbare zu setzen – und so die Wahrnehmung der Betrachterinnen und Betrachter aus dem Gleichgewicht zu bringen, ja geradezu durchzuschütteln.
Und so wuchert in den zeichnerischen Arbeiten dieser Ausstellung kraftvoll Lebendiges, das sich krakengleich im Leben verheddert oder vor Wut Klangschalenkörper hervorbringt, das zerfließt, sich versteckt oder von innen heraus leuchtet. Nichts ist eindeutig, und doch aktiviert Judith Egger gerade dadurch den Geist des Betrachters und beschert ihm ein Synapsenfeuerwerk, das seinesgleichen sucht.
Ihr Gestalten ist ein intuitiver Prozess, der den Dingen ihren Lauf lässt und von einer geduldigen Neugier getragen wird. In ihren Zeichnungen dehnt sich die Kraft des Lebens, breitet sich aus, wuchert, sackt in sich zusammen, droht zu vergehen, ist suchend, findet einen Weg – und führt uns so immer wieder die wesentlichen Fragen nach den Grundlagen unseres Daseins und den Bedingungen unseres Zusammenlebens vor Augen.
Spontan, unmittelbar, ohne Titel – die Arbeiten von Judith Egger sprechen in ihrer Direktheit weniger den Verstand an als die innere Wahrnehmung. Sie sind, wie Ramuntcho Matta treffend feststellt, voller Spannung, Abenteuer und Humor. Ihre „formalen Angebote stellen niemals Bewertungen dar, sondern legen Spuren, die uns den Weg zu neuartigen Empfindungen weisen.“ *
Und da Matta außerdem bemerkt, sich mit Worten auszudrücken gleiche dem Versuch, eine Wolke fangen zu wollen, schließe ich meine Ausführungen an dieser Stelle lieber und überlasse Sie Ihrem Sehnerv und Ihrem Solarplexus.
Eine weiterhin vergnügliche Kunstnacht wünscht Ihnen das Team der Neuen Galerie!
* Ramuntcho Matta, in: Katalog "Matter", Verlag für moderne Kunst, 2016, S.88f.